Montag, 12. Mai 2014

Alchemie, Astrologie und Geschichtswissenschaft



In der Kulturwissenschaft gibt es die etwas überholte These vom gefallenen Kulturgut. Sie besagt, dass Kulturgüter von der Oberschicht eingeführt werden und mit der Zeit sich den unteren Schichten erschließt. Diese Güter durchlaufen also eine Abwertung. Jedoch ist es ziemlich arrogant und anmaßend zu glauben, dass die soziale Oberschicht der alleinige Kulturträger sei.
Allerdings gibt es tatsächlich andere Sachen, deren Notwendigkeit darin besteht, dass diese eine Herabsetzung erfahren. Nehmen wir den Beruf des Historikers. Ich bin selbst einer. Dafür musste ich studieren. Das Studium schloss ich damit ab, dass ich eigenständig eine kleine dunkle Nische in der Geschichte ausleuchtete und erforschte. Damit erlangte ich den Titel eines Magistri artiums (Nominativ: Magister artium). Ein vollkommen banaler Titel.
Für eine Doktorarbeit sind die Anforderungen noch etwas größer. Wer erfolgreich promoviert werden möchte, muss eine große, unbeackerte Nische ausfindig machen, diese erforschen, analysieren und verorten. So ließ ich es mir von einem Lehrstuhlinhaber für Geschichte erklären. Dies wurde durch andere Dozenten bestätigt.
Doch als ich im SPIEGEL (17/2014) auf Seite 48 den Artikel „Wichtig, wichtig: Hunderte Politiker und Wirtschaftsführer erhielten in den Jahren des RAF-Terrors Personenschutz. Eine Studie belegt: Viele schätzten das Prestige.“ las, traute ich meinen Augen nicht. Die Historikerin Maren Richter schrieb in ihrer Dissertationsarbeit „Leben im Ausnahmezustand“ über das Leben wichtiger deutscher Persönlichkeiten während des RAF-Terrors. Dabei fand Richter heraus, dass Politiker, hohe Beamte und Wirtschaftsführer die Annehmlichkeiten von Begleitschutz sehr schätzten. Die Polizisten waren Schutz und Butler zugleich. Gleichzeitig fühlten sich die möglichen Opfer mit Schutz wichtig. Es verschaffte ihnen Bedeutung nach innen und nach außen. Das ging damals so weit, dass sie eine Reduzierung des Personenschutzes ablehnten. Wahnsinn! Eine solche Erkenntnis bedurfte einer wissenschaftlichen Aufarbeitung und hat entsprechend eine Summa cum risu verdient. Mit Betonung auf Risu (risus, latein für Gelächter).
Und deswegen sollten wir aufpassen, was die Geschichtswissenschaft demnächst produziert. Vielleicht findet bald ein Historiker heraus: „Mit einer Waffe in der Hand, fühlt man sich stark und die Welt kann den Waffenträger ‘mal.“ Oder: „Im Krieg haben Menschen Angst.“ Man sieht die letzten großen anthropologischen Fragen durch die Geschichtswissenschaft beantwortet!
Aber konkret stehen auch andere Projekte an. Etwa: „Familienwerte im gesellschaftlichen Wandel: Die US-amerikanische Familie im 20. Jahrhundert“. Darin die Erkenntnis: „Ja, die Rolle der Frau hat sich gewandelt. Aber auch die Rolle des Mannes! Früher musste der Mann von der Frau bedient und umsorgt werden. Und das hauswirtschaftlich und sexuell. Und natürlich gefiel das den Frauen damals.“
Ganz spannend scheint auch „Deutsche "Feindaufklärung" vor dem Ersten Weltkrieg: Art und Bedeutung der Informationsgewinnung zur militärischen Stärke Frankreichs und Russlands 1894-1914“. Eine notwendige Erkenntnis, die unser Geschichtsbild revolutionieren wird. Vielleicht dreht sich die Welt nach Bewertung all dieser Dissertationen schneller. Vielleicht putzt sich Frau Müller morgen auch nur die Zähne unter der Dusche, ohne zu duschen. Man weiß es nicht. Doch wer ist Frau Müller?
Aber ganz bestimmt, werden sich die Erkenntnisse aus all den genannten Arbeiten einreihen unter den Großen der Wissenschaft. Marx‘ Historischer Materialismus oder Hegels Determinismus. Dazu meinte einmal ein ehemaliger Promotionsstudent der Volkskunde, eine historisch arbeitende Kulturwissenschaft, zu mir, dass der Determinismus in der Physik und anderen Naturwissenschaften doch weitaus besser ausgehoben sei, weil diese Wissenschaften doch viel konkreter seien. Dazu: Ja, die Physik ist die Wissenschaft der Größen und damit ziemlich konkret bezifferbar. Doch Worte sind auch konkret. Dagegen besagt der Determinismus vielmehr, dass Dinge, so wie sie eintreten, vorherbestimmt sind. Ereignisse sind demnach in ihrer Entwicklung vorherbestimmt. Wer dies jedoch bestimmt, ist eine Frage des Idealismus oder Materialismus. Doch das ist mir auch egal!
Wegen solcher Belanglosigkeit sollte, die Geschichtswissenschaft unbedingt zum Lehrberuf herabgestuft werden. Schließlich will diese Disziplin keine weiteren großen Würfe erzielen. Gleichzeitig betreibt nun fast jeder Mensch Geschichtswissenschaft. Ob es nun Genealogie, Diplomatik, Heraldik oder eine andere historische Hilfswissenschaft ist. Sogar Museologie wird mittlerweile ehrenamtlich betrieben. Geschichte ist also die Disziplin, bei der eh schon jeder mitredet. Also seien wir ehrlich und lassen alle mitspielen! Das ist keine Schande. Alchemie und Astrologie haben die gleichen Herabstufungen erfahren.

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