Montag, 19. Mai 2014

Der goldene Artikel



Wissen Sie, wie viele Worte der deutsche Wikipedia-Artikel zur deutschen Fußballnationalmannschaft umfasst? Nein, weshalb auch. Ich verbringe ja auch nicht die Zeit damit, irgendwelche Artikel auf die Anzahl seiner Worte zu prüfen! Jedenfalls sind es exakt 25 700 Worte (Stand: 18. Mai 2014, 22:50). Einschließlich all seiner 93 Fußnoten.

Wie viele Worte sind es beim Wikipedia-Artikel über unseren Staat, die Bundesrepublik Deutschland? Es sind 27 084 Worte mit all seinen 180 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 22.55).

Und nun der Wikipedia-Artikel über unseren Planeten? Es sind 5397 Worte mit allen 17 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 22.58).

Merken Sie etwas? Ja? Und zwar, dass die Kulturleistungen größere Beachtung finden? Der Eindruck mag sich aufzwingen. Doch vergleichen wir das nun mit historischen Persönlichkeiten, die sich um die Menschheit, zumindest in der deutschen Geschichte, verdient gemacht haben.

Beginnen wir mit Jesus Christus, dem Begründer einer ganzen Weltreligion und vielleicht auch Stifter von damals neuen Werten. 8692 Worte für einen Artikel mit 32 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 23.02). Okay, Jesus liegt auch 2000 Jahre zurück. Wissenschaftliche Erkenntnisse über ihn sind schwierig, weil über die Jahre viel verschwunden, eingestaubt, vernichtet und sonst wie nicht definitiv nachweisbar sind.

Setzen wir fort mit Martin Luther, von dem manche behaupten, er hätte die Neuzeit eingeläutet: 12 452 Worte mit insgesamt 82 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 23. 07). Ja, da muss man vielleicht eingestehen, dass Luther nicht die Katholiken, Juden, Muslime und viele andere Religionsangehörige betrifft. Aber trotzdem haben auch sie durch den von Luther eingeleiteten Geisteswandel in Europa profitiert. Jedenfalls liegt Luthers Reformation auch fast 500 Jahre zurück.

Aber das Leben von Karl Marx nicht. Wie viele Worte finden sich in seinem Wikipedia-Artikel? Stand vom 18. Mai 2014 um 23.12: 13 994 Worte mit 68 Fußnoten. Aber Karl Marx? Ja, trotz brillanter Erkenntnisse sind seine wissenschaftlichen Thesen selbst in der zeitgenössischen Wissenschaft rückläufig. Lieber versteigt sich die derzeitige Forschung auf vorherige Thesen wie dem Idealismus, Determinismus und andere.

Nun gut, dann rechnen wir die Worte über zwei andere Thesen von großen deutschen Wissenschaftlern zusammen. Max Plancks Quantenphysik aus dem Jahr 1900 und Albert Einsteins Relativitätstheorie von 1905 beziehungsweise 1916, die sich gegenseitig beharken. Es sind zusammen 7178 Wort mit insgesamt 20 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 23.17).

Hm, also stimmt es auch nicht, dass eine historische Leistung, die zahlreiche Menschen bereicherte und deren Leben vereinfachte, besondere Würdigung in der deutschen Wikipedia-Enzyklopädie erfährt.

Doch wie kommt das? Ich wage also einen Blick ins Ausland. Frankreich ist ein passendes Beispiel. Über Charles de Gaulle lässt sich in Frankreich nicht großartig streiten. Sein französischer Wikipedia-Artikel umfasst 25 005 Worte bei 143 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 23.25). De Gaulles Zeitgenosse Konrad Adenauer bringt es dagegen nur auf 11 160 mit insgesamt 70 Fußnoten (Stand: 18. Mai, 23.42).

Der französische Artikel über die aktuelle fünfte französische Republik zählt 25 588 Worte bei 206 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 23.35). Das ist beachtlich, schließlich hat das Land die Civilisation (5060 Worte am 18. Mai 2014 um 23.25) begründet. Selbst über deren aktuellen Präsidenten Francois Hollande finden sich 11 504 Worte (Stand: 18. Mai 2014, 23.25). Dessen Unbeliebtheit ist scheinbar ebenfalls unbestritten und sorgt damit für eine große Wortzahl.

Dagegen finden sich im französischen Artikel über die Équipe de France de football (französische Fußballnationalmannschaft) 22 558 Worte mit 176 Fußnoten (Stand: 18. Mai 2014, 23.25).

In Frankreich wird der Fußball von geistigen Errungenschaften mit verdienstvollen Persönlichkeiten aus der Geschichte übertroffen. Man kann nun behaupten, dass die Französische Fußballnationalmannschaft nicht sonderlich gut sei. Doch hat sich die französische Nationalmannschaft in einer sich ständig professioneller werdenden Sportart später den letzten Weltmeistertitel gesichert als die deutsche. Und zwar im Jahr 1998, und danach den Titel eines Europameisters 2000.

Es ist zwar auch kein deutlicher Unterschied bei der Wortzahl, aber es ist ein ganz anderes Verhältnis. Die Franzosen können sich mit so viel mehr identifizieren. Und wir Deutsche? Brauchen wir nun einen de Gaulles, Hollande, oder vielleicht einen Barack Obama (englischer Wikipedia-Artikel: 23 409 Worte mit 362 Fußnoten; Stand: 19. Mai 2014, 00.35) oder Wladimir Putin (russischer Wikipedia-Artikel: 28 103 Worte mit 581 Fußnoten, Stand: 19. Mai 2014, 00.35)? Oder was braucht es dann?

Tja, im Vorfeld und während der Weltkriege sah sich die deutsche Bevölkerung als einziges Kulturvolk. Diese abstruse Geisteshaltung sorgte für deren berechtigten Niedergang. Doch die Geisteshaltung, dass Deutschland das Land der Dichter und Denker sei, hält sich noch immer in den konservativ- bis moderat-bürgerlichen Gesellschaftsschichten der Bevölkerung. Als wenn Frankreich, die Niederlande, Dänemark oder Russland weniger Geistesgrößen hätten als wir Deutschen! Jedoch finden sich trotzdem so wenige Worte für Luther, Marx und andere.

Sind also Jesus, Luther und Marx überholt? Sicherlich nicht vollends. Doch die Deutschen wollen sich auf diese historischen Persönlichkeiten nicht einigen oder darüber diskutieren. Und Angela Merkel taugt auch nicht dafür. Die Anzahl an Wörtern in ihrem deutschen Wikipedia-Artikel möchte ich ungern zählen, aber es sind 12 862 mit 145 Fußnoten (Stand: 19. Mai 2014, 00.09). Und das für eine Politikerin, die regelmäßig die Skala der beliebtesten Politiker anführt.

Daraus lässt sich schließen, dass sich die deutsche Bevölkerung nicht konfessionell oder politisch bekennen oder gar pseudo-wissenschaftlich betätigen will. Lieber flüchtet es in die Entpolitisierung, den Agnostizismus und Fußball. Dieses bedarf wenigstens keine inhaltliche Auseinandersetzung. Und Fußball scheint für diese Mitmenschen ein passender Ersatz. Das Fan-Sein benötigt ja auch nur übermäßigen Alkoholismus, sportspezifische Schlaumeierei und sinnloses Gegröle.

Nichts spricht gegen die Begeisterung für Fußball. Doch führt die steigende Fußballisierung bei gleichzeitiger Entpolitisierung zu fatalen Überzeugungen. Mittlerweile sprechen viele Deutsche über die eigene Fußballnationalmannschaft in der ersten Person Plural (wir). Das ist jedoch vollkommen fehlerhaft, schließlich stehen nur elf Mann auf dem Spielfeld und nicht 80 Millionen Deutsche.

Weiterhin führen die anhaltende Fußballisierung und die fortschreitende Entpolitisierung zu übersteigerten Bekenntnissen. Regelmäßig werden Neonazis bei Spielen der deutschen Fußballnationalmannschaft ausfindig gemacht. Sei es mit einem Trikot mit der Aufschrift „88“, was für „Heil Hitler“ steht, oder seien es die tiefen, gewaltigen Schlachtrufe „Deutschland“. Deutschland scheint wohl wieder jemand zu sein. Doch wer? Das entscheidet sich mit Hilfe von Titeln bei internationalen Sportwettkämpfen.

Es ist zu hoffen, dass bei der anstehenden Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien nicht die deutsche Fußballnationalmannschaft den Titel holt. Jedoch hoffen das ebenfalls die Brasilianer von ihrer Seleção (brasilianische Fußballnationalmannschaft mit 9931 Worten und 53 Fußnoten im portugiesischen Wikipedia-Artikel, Stand: 19. Mai 2014, 01.20). Derzeit prangern die ansonsten fußballbegeisterten Brasilianer die sozialen Missstände in ihrem Land sowie die Verschwendung im Rahmen der WM in ihrem Land an und wollen deshalb diesen Wettkampf boykottieren. Vielleicht können wir nun etwas von den Brasilianern lernen. Und zwar: Fußball ist nicht alles, Fußball macht nicht satt und wohlhabend, Fußball ist Betrug. Die Brasilianer sind um diese bewundernswerte Geisteshaltung wirklich zu beneiden.

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